Urteil des SG Speyer zu Kosten bei Unterkunft und Heizung

Urteil des SG Speyer zu Kosten bei Unterkunft und Heizung

Die 16. Kammer des SG Speyer hat unter dem Aktenzeichen S 16 AS 1466/17 ER entschieden:
(Sozialgerichtliches Verfahren – einstweiliger Rechtsschutz – Regelungsanordnung – Anordnungsanspruch – Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Begrenzung der Leistungen durch den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit – Bestimmtheitsgebot – Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 – Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes – Mehrpersonenhaushalt – Zuordnung der Unterkunftskosten – keine Anwendung des Kopfteilprinzips mangels Rechtsgrundlage – Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB 2 – keine Anwendung bei der Bekanntgabe von Verwaltungsakten)

Leitsatz

1. § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II ist verfassungswidrig. Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art 20 Abs 1 GG (Sozialstaatsprinzip). Mit der Begrenzung der bei der Bedarfsberechnung zu berücksichtigenden Unterkunftskosten auf die „angemessenen“ Aufwendungen in § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II verstößt der Gesetzgeber gegen das verfassungsrechtliche Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen hinreichend bestimmt selbst zu treffen (Anschluss an SG Mainz vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und vom 12.12.2014 – S 3 AS 370/14).
2. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II noch nicht entschieden. Mit Beschluss vom 6.10.2017 (BVerfG vom 6.10.2017 – 1 BvL 2/15 ua) wurden die Vorlagebeschlüsse des SG Mainz vom 12.12.2014 (SG Mainz vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 und vom 12.12.2014 – S 3 AS 370/14) lediglich als unzulässig verworfen, da sie nach Auffassung des BVerfG nicht in jeder Hinsicht den Darlegungsanforderungen des § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG genügten (vgl BVerfG vom 6.10.2017 – 1 BvL 2/15 ua = juris RdNr 13). Mit dem Beschluss vom 10.10.2017 (BVerfG vom 10.10.2017 – 1 BvR 617/14 = NJW 2017, 3770) wurde die dem Verfahren zu Grunde liegende Verfassungsbeschwerde durch die 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Soweit sich die Kammer in diesem Beschluss gleichwohl dahingehend äußert, dass sie die Regelung für verfassungsgemäß hält, vermag deren Argumentation nicht zu überzeugen.
3. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG einholen müssten (vgl BVerfG vom 24.6.1992 – 1 BvR 1028/91 = BVerfGE 86, 382 = juris RdNr 29; SG Speyer vom 17.8.2017 – S 16 AS 908/17 ER = juris RdNr 75).
4. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind bei Mehrpersonenhaushalten den Personen als Bedarf zuzuordnen, die die Aufwendungen tatsächlich haben, dh die tatsächlich einer entsprechenden Forderung ausgesetzt sind. Für eine Aufteilung nach Kopfteilen besteht hingegen keine Rechtsgrundlage (Anschluss an SG Mainz vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 = juris RdNr 289ff und SG Speyer vom 17.8.2017 – S 16 AS 908/17 ER = juris RdNr 31ff; entgegen BSG vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R = BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, RdNr 28f und vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 7/07 R = FamRZ 2008, 688 = juris RdNr 19).
5. Die Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB II gilt nicht für den Fall der Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber dem Antragsteller (Fortführung von SG Speyer vom 8.9.2017 – S 16 AS 729/16 = juris RdNr 46ff).

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